Dublin: Wirtschaftliches, kulturelles und soziales Zentrum
Mitten im Sommer haben wir unseren nunmehr dritten Feldaufenthalt absolviert. Um unsere Erfahrungen, die wir im Vereinigten Königreich gemacht haben, zu kontrastieren, sind wir nach Irland gereist, wo wir uns zunächst auf Dublin konzentrierten. Als wirtschaftliches, kulturelles sowie soziales Zentrum des Landes war für uns ein Besuch dort unerlässlich, um mehr über das Land und seinen Umgang mit Armut und den daraus entstehenden Problemen zu erfahren. Da es neben Dublin keine zweite wirkliche Metropole oder eine andere Region mit ähnlicher struktureller Bedeutung gibt, haben wir uns dagegen entschieden, den Stadtnamen zu maskieren, und werden in unseren Analysen nur die Stadtteile und Ortschaften in und um Dublin, die wir aufgesucht haben, verfremden.
Vor Ort haben wir uns wieder zunächst orientiert und Dublin als eine sehr lebendige und vielfältige Stadt erlebt: Viele Menschen haben Geschäfte zu erledigen, die Busse sind immer voll, im alten Hafen werden moderne Bürogebäude für Banken, Kreativ- und Internetindustrie hochgezogen. Ergänzt wird das – zumindest im Zentrum – durch eine endlose Zahl Touristen, die meist einen der vielen Pubs aufsuchen. Wir hielten uns für unsere Interviews in zwei Randbezirken auf, wo wir zum einen eine privat organisierte, aber öffentlich geförderte Jobvermittlungsagentur für Langzeitarbeitslose aufsuchten und zum anderen bei einer Kirchengemeinde vorstellig wurden. Während wir in ersterer „klassische“ Gruppendiskussionen und Einzelinterviews mit den Arbeitssuchenden und dem Personal führen konnten, wuchs sich der Kontakt zur zweiten zu einem fast schon ethnographischen Feldaufenthalt aus.
Vermittlungsagentur für Langzeitarbeitslose
Das Centre wurde 1996 gegründet, wird vom irischen Staat gefördert (Jahresbudget: 1 Million Euro) und kümmert sich um Langzeitarbeitslose in Dublin. Dabei werden verschiedene Stadtviertel abgedeckt. Besondere Zielgruppen unter den Langzeitarbeitslosen, die wieder in Arbeit gebracht werden sollen, sind Menschen mit „disabilities“, „lone parents“ sowie die „traveller community“. Das Mindestalter für eine Teilnahme am Programm ist 16 Jahre. Nicht angenommen werden Menschen mit „substance abuse“, weil sie in den Gruppen einen schlechten Einfluss hätten. Interessant war zudem, dass sich das Zentrum eine Datenbasis mit dem Civil Service, der die offiziellen JobCentres betreibt, teilt. Die damit verbundene enge Beziehung und mitunter an das Centre herangetragenen Aufforderungen, Verstöße der Arbeitssuchenden gegen ihre Arbeitsvermittlungs- bzw. Weiterbildungsvereinbarungen zu melden, stellt die Mitarbeiter immer wieder vor ethische Probleme, wie wir erfuhren. Allerdings wurde auch deutlich gemacht, dass das Personal solchen Aufforderungen und Anfragen im Sinne der Vertrauensbildung mit ihren Teilnehmerinnen nicht nachkommen würden. Nachdem wir vom Leiter der Einrichtung mit diesen Informationen versorgt und auch sonst äußerst nett aufgenommen worden waren, gelang es uns gleich anschließend, mit einigen schon anwesenden Teilnehmern des JobClubs eine Gruppendiskussion durchzuführen. Fast eine Woche später kehrten wir zurück und führten noch Einzelinterviews mit den Gruppenteilnehmerinnen durch. Eine zweite Gruppendiskussion, die für den Tag vor unserer Abreise in Aussicht gestellt worden war, kam leider nicht mehr zustande.
Kirchengemeinde und Traveller Community
Der zweite wichtige Teil unseres Feldaufenthalts spielte sich innerhalb und im Umfeld eines Zentrums einer Kirchengemeinde ab, das sich in einem wegen angeblich hoher Kriminalitätsraten verrufenen Viertel befindet. Das Zentrum beherbergte neben der Kirche auch eine Schule und eine medizinische Einrichtung. Der Pfarrer der Gemeinde sowie eine Ordensschwester, die sich unser annahm, erwiesen sich als äußert hilfsbereit und essentiell wichtig, was weitere Kontaktanbahnungen im Feld betrifft. Direkt in der Kirche führte wir Gruppengespräche und Einzelinterviews mit verschiedenen Gruppen und Personen. Dabei stellte sich heraus, dass bei Weitem nicht alle Besucherinnen und Nutzerinnen der kirchlichen Angebote sich auch als bedürftig oder gar arm begreifen. Bei einigen rief diese mit den Interviewfragen transportierte Adressierung sogar Unmut hervor. Gleichwohl organisiert die Kirche auch selbstständig eine Foodbank und steht prinzipiell tagsüber für Bedürftige offen, die sich einen Tee und ein Sandwich abholen können. Dieses Angebot wird durchaus rege genutzt.
Daneben hatten wir das Glück, dass uns die Ordensschwester in die lokale Traveller-Community einführte, die sich am Rand des Viertels niedergelassen hat und nun ein Teil davon ist. Die Irish Travellers sind ein fahrendes Volk, das sich auch über Irland hinaus ausgebreitet hat, aber vor allem auf der Insel präsent ist. Dort erfahren sie vor allem aufgrund ihrer Lebensweise Diskriminierungen, weshalb sie oft unter vergleichsweise schlechten Bedingungen leben. Zudem sind sie sehr verschwiegen und lassen nur wenig Kontakt nach außen zu. Ohne die Ordensschwester, die uns einfach zu einem ihrer Besuche in den Camps mitnahm, hätten wir wahrscheinlich keinen Kontakt zu dieser Gruppe bekommen.
Am dem Weg zu einem der Camps erhalten wir dann auch einen weiteren Eindruck vom Viertel. Anders als auf der anderen Seite der Kirche, wirken die Straßen, Häuser und Grundstücke hier wesentlich weniger im Schuss. Außerdem ist überall Müll auf den Straßen zu sehen. Es häufen sich sogar kleine Halden von Plastik und Mülltüten an. An einer Stelle, in einer Kurve steht ein abgebranntes Auto im Gras. Als wir tags drauf an der gleichen Stelle vorbei kommen, ist es bereits wieder weg geräumt und nur noch die Brandstelle zu sehen. Es wird klar, dass deviante Verhaltensweisen in diesem Teil des Viertels weitaus verbreiteter sind als am anderen Ende. Die Ordensschwester wirkt von all dem wenig beeindruckt und erklärt uns einiges über die Straßenzüge und den Traveller-Standort, den wir aufsuchen. Sie kennt einige der Leute, die wir passieren, besonders die Kinder, die sie grüßen. Als wir uns dem Traveller-Standort nähern, fallen vor allem die Pferde und Ponys auf, die auf der Wiese vor dem Trailer-Park grasen.
Von dem Platz, an dem sich die Traveller niedergelassen haben, sind wir beeindruckt. Er wirkt etwas chaotisch, aber nicht abstoßend. Wie alle Menschen, mit denen wir Kontakt hatten, sind auch die Traveller sehr freundlich und kommunikativ – zumindest die Frauen, mit denen wir fast ausschließlich ins Gespräch kamen. Obwohl dieses fahrende Volk als verschl0ssen gilt (was sie auch über sich selbst sagen), konnten wir so dennoch einige längere Gespräche führen. Dieser Teil unserer Feldforschung hatte einen stärker ethnographisch eingefärbten Charakter und eröffnete uns eine neue „Sinnprovinz“, die wir vorher nicht in diesem Ausmaß „auf dem Schirm“ hatten. Da wir daneben zwei weitere „Sites“ besuchen, erhalten wir einen guten Eindruck von der Lebensrealität der „travelling people“. Sie ist von Exklusion und relativer Armut geprägt. Besonders das letzte Gelände, die wir besuchen durften, hat uns diesbezüglich die Augen geöffnet und in Hinblick auf die herrschenden Lebensbedingungen sehr schockiert.
Bei den Travellern kamen wir vor allem mit einer jüngeren Frau ins Gespräch, von der wir viel über das Leben dieser eigenen Bevölkerungsgruppe erfuhren und die uns mehrmals in ihren Trailer einlud. Auch dort schlug uns wieder enorme Gastfreundlichkeit und Offenherzigkeit entgegen. Da wir in diesem Gesprächen weniger strukturiert und vorbereitet vorgehen konnten, sind die Mitschriften und Aufzeichnungen aus diesen Aufenthalten als ethnographische Dokumente zu behandeln.
Abstecher ins Innere der Insel
Einen letzten, eintägigen Feldaufenthalt konnten wir dann noch circa eine Stunde außerhalb von Dublin realisieren. Mehr im Landesinneren und etwas abseits des großen Zentrums der Insel erhofften wir uns davon, unsere Datengrundlage zu verbreitern. In einem privatwirtschaftlich organisierten Einrichtung trafen wir so auf eine Gruppe, die am Ende eines „Self-employment“-Kurses stand und sehr zufrieden, aufgeschlossen und freundlich wirkte. Mit dieser Gruppe konnten wir eine überaus produktive (und lange) Gruppendiskussion führen und außerdem in Anschluss noch mit einigen Mitarbeiterinnen über ihre Arbeit sprechen. Insgesamt hatten wir so das Gefühl, eine weitere wichtige Variation von Armut, Wohlfahrtsstaatlichkeit und deren institutionelle Verwaltung in den Blick bekommen zu haben.
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