Neben einigen Tagungen haben wir uns für den Sommer 2018 zwei ergänzende Erhebungen vorgenommen. Zum einen in einer Küstenstadt in Südengland (S-Town). Zum anderen in einer kleineren Stadt im Westen Irlands (W-Town). An dieser Stelle möchten wir kurz unsere Eindrücke aus Südengland schildern.

Ankunft: Arm und Reich nah beieinander

Die Sonne bricht sich in der zeltartigen Konstruktion, die die Bahnsteige des Bahnhofs überspannt, sie wirft ein kariertes Muster auf den Boden, der uns in die Eingangshalle führt, die einem Gebäude der Renaissance nachempfunden sein soll. Überall strahlt die zentrale Farbe Blau, obwohl das Wort strahlen vielleicht gar nicht trifft, denn an vielen Stellen nagen gemeinsam die Zeit und der salzige Wind, der vom Meer durch die Straßen weht am Bestand des Bahnhofes und, wie sich in den nächsten Minuten, Stunden, Tagen, zeigen wird, auch an der ganzen Stadt. Es ist Juni und wir sind zum Feldaufenthalt an der englischen Südküste.

Die Stadt ist belebt und vor allem das Zentrum – mit seinen anschaulichen kleinen, fast süßen Gassen mit den zahlreichen Läden, Cafés, Pubs und den größeren Straßenzügen mit etlichen bekannten Geschäften und Malls – ist vom frühen Morgen bis in die späten Abendstunden hinein gut gefüllt. An der Promenade entlang flanieren Menschen um die Sonne zu genießen, die die markanten, weißen Fassaden der viktorianischen Häuser zu leuchten bringt. Von nahem, fällt auf, quasi unübersehbar, dass die Farbe vielerorts bröckelt, der Putz herabrieselt. Es scheint eine Metapher für die Verhältnisse in der Stadt und so sind die vielen Menschen, die hier auf kleinstem Raum unter prekären Lebensverhältnissen leben nicht zu übersehen. Ob auf dem Weg zum Bahnhof oder an einer kleinen Sehenswürdigkeit im Zentrum, im offenen Leben der Stadt sind wohnungslose Menschen aber auch Alkohol- und Drogenabhängige ein zumindest scheinbar normaler Anblick. Sie lassen uns unseren Blick gleich zu Beginn auf unser Ziel des Aufenthalts wenden: die Lebenswelten von Menschen unter prekären Lebensbedingungen, ihren Ansichten und nicht zuletzt die Hilfsangebote, die ihnen zur Verfügung stehen.

  

Erster Anlaufpunkt: eine offene Begegnungsstätte für Familien, Singles und Obdachlose

Unser erster Weg, führt uns in ein zentral gelegenes Zentrum, dessen Hilfsangebot sich auf explizit auf Menschen aller Art richtet. Und offen ist das Haus wirklich. Im Gegensatz zu anderen Einrichtungen, basiert die seit den 80ern bestehende und staatlich registrierte Hilfseinrichtung, auf einem durchweg freien Zugang – es werden keine Namen kontrolliert oder gar aufgeschrieben und so fallen wir bei unserem ersten Besuch auch nicht wirklich auf. Wir bekommen vor allem nicht das Gefühl, wir würden von außen kommen, werden auch nicht gemustert oder ähnliches. Entsprechend angenehm sind die ersten Gespräche mit zwei Mitarbeiterinnen, die uns willkommen heißen und mit Informationen versorgen, während um uns herum etliche Menschen verschiedenen Alters herumsitzen, reden oder die Möglichkeit einer günstigen Mahlzeit annehmen. Die Versorgung mit einem (veganen) Mittagessen für wenig Geld ist dabei nur ein Aspekt der direkten Hilfe des Zentrums. So verteilen sich über die Woche verschiedene Kurse, in denen die Besucher Rechtsberatung erhalten, sich aber auch künstlerisch ausprobieren können oder gesundheitlich bilden. Es gibt eine Kinderbetreuung, einen gut genutzten Computerraum, soziale Hilfe und Beratung und nicht zuletzt die Möglichkeit sich ehrenamtlich zu engagieren und damit auch ein Zertifikat zu erhalten um zukünftige Bewerbungschancen zu verbessern. Die Mitarbeiterinnen geben uns nicht nur beim ersten Besuch einen Einblick, sondern helfen uns auch in den nächsten Tagen dabei, unsere Interviews durchzuführen, indem sie mögliche Interviewpartner ansprechen und uns Räumlichkeiten zur Verfügung stellen. Dabei entstehen ein großes Gruppeninterview, zehn weitere Einzelinterviews sowie etliche Protokolle für unsere Feldforschung. Die Befragten sind uns gegenüber zumeist sehr offen, was wir auf die vertraute Zusammenhörigkeit zurückführen, die diese Einrichtung auszeichnet.

Zweiter Anlaufpunkt: Verteilungsstelle für Essensspenden

Unsere zweite Anlaufstelle bringt uns im oberen Teil der berühmten Doppelstockbusse an den Rand der Stadt, wo UK-weit operierende Organisation in einem kleinen Gewerbe- und Industriekomplex untergebracht ist. Diese Organisiation sammelt zum einen von Supermärkten und Firmen gelieferte Lebensmittel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum bevorsteht oder die aus anderen Gründen aussortiert werden, und verteilt sie an verschiedene soziale Einrichtungen (wie die zuvor besuchte), wo sie an Bedürftige ausgegeben werden. Zum anderen bietet das Projekt eine Anlaufstelle für Menschen, die sich neben ihrem Beruf ehrenamtlich betätigen wollen oder Arbeitsstunden ableisten müssen. Vor allem ist es aber eine Möglichkeit, für Personen in prekären Bedingungen als Freiwillige zu arbeiten und somit Struktur in den Tagesablauf zu bekommen, Hilfe zurückzugeben und ein Zertifikat – als GabelstaplerfahrerIn – zu erhalten. Nicht zuletzt zeugt auch ein riesiger Kühlschrank in der für das Essen vorgesehene Lagerhalle von der Möglichkeit, Nahrung für sich zu nutzen. Das gesamte Gelände und das Verwaltungsgebäude werden uns bei einer kurzen Führung gezeigt. Auch hier ist die Mitarbeiterin, mit der wir bereits zuvor in Kontakt standen, sehr freundlich und offen für unsere Anliegen und Forschungsinteressen. Es entstehen insgesamt vier Einzelinterviews, die uns zahlreiche Einblicke in die Lebensbedingungen und -hintergründe der Beteiligten liefern.

Text: Alexander Mennicke